Sieh, das Gute liegt so nah!

Warum in die Ferne schweifen? In Mondacce hat eine Bauherrin ihren Traum vom eigenen Haus verwirklicht, wobei es nie ihre Absicht war, diesen Flecken Erde dafür auszuwählen.

Sieh, das Gute liegt so nah!

Willst du immer weiter schweifen? Sieh, das Gute liegt so nah. Lerne nur das Glück ergreifen, denn das Glück ist immer da.» Der leicht veränderte Vers von Goethes Vierzeiler «Erinnerung» kommt mir in den Sinn, als die Bauherrin die Entstehungsgeschichte ihres Hauses schildert. Sie habe nie gedacht, dass sie in dem Dorf, in dem sie herangewachsen sei, einmal ihre Kinder grossziehen werde. Und das nur wenige Treppenstufen vom Elternhaus entfernt. «Das Leben ist unvorhersehbar», sagt die Bauherrin Laura Lardi und lächelt. «Ich habe durch meinen Marketingberuf die Welt bereist, unter anderem China und die USA. Ich habe in verschiedenen Destinationen gelebt, aber immer in kleinen Wohnungen oder Häusern.» Als das erste Kind zur Welt kam, beschloss sie, ein eigenes Haus zu bauen. Das Familiengrundstück stand dabei zur Verfügung.

An steiler Hanglage, wo der Grossvater der Bauherrin Reben für Wein und Grappa für den Eigengebrauch bewirtschaftete, durfte sie das eigene Familienhaus errichten. Das sei für sie immer ein kleiner Traum gewesen, es sei aber nicht unbedingt ihr Ziel gewesen, in der Heimat zu bauen. «Schon als Teenager habe ich Architekturzeitschriften gelesen», erzählt die Bauherrin. Für sie sei damals schon klar gewesen, dass ihr Traumhaus minimalistisch sein müsse.

Lokal, integriert, puristisch

Die Werke des Architekten Michele Arnaboldi trafen dabei ihren Geschmack. «Seine Architektur ist sehr modern und immer gut in die Umgebung integriert. Das ist nicht immer der Fall, insbesondere hier im Tessin», sagt Laura Lardi. Tatsächlich bemerken wir den Neubau nicht, als wir die Via Contra entlangfahren, und verpassen zuerst die Abzweigung mit dem steilen, schmalen Weg zum Haus. Als wir endlich an der richtigen Hausnummer angekommen sind, deutet der mit Beton überdachte Parkplatz, der sich an ein älteres Haus lehnt, darauf hin, dass hier irgendwo noch ein Haus neueren Jahrgangs sein muss. Als ich vom Parkplatz aus zum See blicke, entdecke ich das begrünte Dach des Hauses. Der Duft von Rosmarin und Lavendel begleitet uns über Stufen hinunter zum überdachten Eingangsbereich.

Das Haus ist an steiler Hanglage gebaut und bietet der Familie einen atemberaubenden Blick auf den Lago Maggiore.
Das Haus ist an steiler Hanglage gebaut und bietet der Familie einen atemberaubenden Blick auf den Lago Maggiore.
In der Küche hat die Familie immer eine schöne Sicht auf den See.
In der Küche hat die Familie immer eine schöne Sicht auf den See.

Das Gebäude hat zwei Wohneinheiten. Die erste Tür führt in die 2-Zimmer-Wohnung, die derzeit vermietet wird. Die zweite Tür öffnet das Familienhaus mit zwei Etagen. Beton, Glas und Stahl–wenige Materialien formen das Haus, wobei die Terrasse eine Zickzacklinie mit zwei Zacken zeichnet und die Existenz von zwei Wohneinheiten akzentuiert. Im Hausinnern ist das Materialkonzept durch Holz ergänzt. Das war ein Wunsch der Bauherrin, um den Räumen mehr Wärme zu verleihen. Der Architekt setzte das Naturmaterial für die Türen und die Einbauschränke ein. Ein weiterer Wunsch der Bauherrin, der von der ursprünglichen Idee des Architekten abwich, waren der Zementboden und die Keramikplatten für die Terrasse. Ansonsten überliess sie dem Planungsteam viel Gestaltungsfreiheit. Hinsichtlich des Raumkonzepts wünschte sie sich eine grosse schwarze Küche mit Chromstahlabdeckung, ein grosses Badezimmer mit frei stehender Badewanne, für beide Töchter je ein eigenes Zimmer und viel Tageslicht in allen Räumen.

Die Verteilung der Räume ist logisch nachvollziehbar: Auf der ersten Ebene betritt man das Haus. Hier sind die Küche und der Wohnbereich. Das ist sinnvoll, denn hier hat man eine atemberaubende Sicht auf den Lago Maggiore. Ausserdem ist auf der gleichen Ebene nebenan die vermietete Wohnung, mit der sich die Familie die Terrasse teilt. Die privaten Zimmer befinden sich im Untergeschoss. Die Treppe führt zunächst zu einem offenen Raum, der sich auf zwei Seiten zum Garten öffnet. Die Bauherrin bezeichnet ihn als «Jolly-Raum», der sich den ändernden Bedürfnissen ihrer Familie anpasst. Derzeit ist hier ein Schreibtisch, und es gibt viel freie Fläche zum Spielen und Basteln. Später könnten die Töchter hier ihr eigenes Wohnzimmer einrichten oder den Raum so nutzen, wie sie ihn gerade brauchen. Hinter der Treppe führt ein schmaler Korridor zu den Schlafzimmern, die talseitig orientiert sind. Die Türen bilden mit den Einbauschränken eine lange Wand aus Holz. Hangseitig ist ein Wasch-und Technikraum untergebracht. Ein Kellergeschoss gibt es nicht, deshalb wurde Platz für Velos, Skiausrüstung und Co. draussen unter dem Parkplatz geschaffen. Am Ende des langen Korridors führt eine Schiebefenstertür wieder zum Garten hinaus. Ein Kiesweg säumt die Fenster der Schlafzimmer, während die Wiese die Konturen der oberen Terrasse nachzeichnet und an der Westseite des Hauses mit grossem Sitzplatz abschliesst. Von dort aus geht es wieder ins Haus hinein oder um das Haus herum hoch zum Eingangsbereich, wo junge Birnen-und Apfelbäume reife Früchte tragen.

Eine Betonwand trennt die Küche vom Wohnzimmer. Links vom Sofa führt eine Treppe in die untere Etage.
Eine Betonwand trennt die Küche vom Wohnzimmer. Links vom Sofa führt eine Treppe in die untere Etage.
Dank der hangseitigen Fenster- front ist der Eingangs- bereich lichtdurchflu- tet. Davon profitiert un- ter anderem die Küche. Hinter der Holztür ist das Gäste-WC. Dort könnte man die Wand aufbrechen, um diese Etage mit der Einlieger- wohnung zu verbinden, falls das in Zukunft ge- wünscht sein sollte.
Dank der hangseitigen Fensterfront ist der Eingangsbereich lichtdurchflutet. Davon profitiert unter anderem die Küche. Hinter der Holztür ist das Gäste-WC. Dort könnte man die Wand aufbrechen, um diese Etage mit der Einliegerwohnung zu verbinden, falls das in Zukunft gewünscht sein sollte.

Über Stolpersteine und Kompromisse

Das schlichte Konzept des Hauses beweist mit wenigen Kniffen–wie der speziellen Gebäudeform, den wenigen Materialien und der klugen Eingliederung in die Topografie–viel Raffinesse. Eine besondere Herausforderung stellte die Steillage dar. «Wir waren ahnungslos, wie schwierig es sein würde, andieser Lage zu bauen», erzählt die Bauherrin. Abgesehen davon, dass das Grundstück zuerst erschlossen werden musste, waren die Bauunternehmen mit dem schmalen, steilen Weg konfrontiert: «Die Lastwagen mit Zement konnten nicht voll befüllt werden und mussten rückwärts den Hang hoch zur Baustelle fahren. Weil der Weg zu schmal war, musste man eine Mauer abreissen und nach der Fertigstellung des Hauses wieder aufbauen», erinnert sich die Bauherrin.

Insgesamt sei der Hausbau eine interessante Erfahrung gewesen. «Wenn man einen Architekten wählt, geht man eine Beziehung ein. Man heiratet sozusagen die Architekturphilosophie», sagt Laura Lardi. Für sie ist klar, dass ein Architekt oder eine Architektin künstlerische Gestaltungsfreiheit verdient. Sie liess sich auf die Ideen der Fachleute ein. Im Gegenzug verlangte sie Kompromissbereitschaft, die ihr auch entgegengebracht wurde.

Diese skulpturale Betontreppe verbindet das Wohngeschoss mit den privaten Räumen auf der unteren Etage. Hinter der Treppe erschliesst der Korridor die Schlafzimmer sowie den Wasch-und Technikraum. Vor der Treppe gibt es eine Tür zum Gartensitzplatz
Diese skulpturale Betontreppe verbindet das Wohngeschoss mit den privaten Räumen auf der unteren Etage. Hinter der Treppe erschliesst der Korridor die Schlafzimmer sowie den Wasch-und Technikraum. Vor der Treppe gibt es eine Tür zum Gartensitzplatz
Alle Schlafzimmer sind nach Süden ausgerichtet, so auch das Elternzimmer, das durch eine Schie- betür vom Masterbad getrennt ist
Alle Schlafzimmer sind nach Süden ausgerichtet, so auch das Elternzimmer, das durch eine Schiebetür vom Masterbad getrennt ist

Wie das Leben so spielt

Da die Bauherrin für die letzten vier Monate der Bauphase ein Haus nebenan gemietet hatte, konnte sie mit der Familie den Hausbau aus nächster Nähe beobachten. «Das war das Schönste am ganzen Projekt. Es war, wie ein Kind heranwachsen zu sehen», sagt Laura Lardi. Die Handwerker zählten während der zwei Baujahre gar zur Familie: «Wir haben zusammen gegessen, kochten im Winter Suppe und brachten im Sommer Glace vorbei, das war schön», erinnert sie sich. Bemerkenswert fand sie die Leidenschaft der Bauleute für ihren Beruf. Als alle Arbeiten abgeschlossen waren, konnte die Familie schliesslich die Möbel vom Mietshaus in den Neubau über den Kran transportieren lassen.

Inzwischen hat sich die Bauherrin mit ihren Töchtern gut eingelebt. Interessant sei, dass die Kinder kein starkes Bedürfnis hätten, draussen zu sein, da sie sich wegen der grossen Schiebefenster drinnen wie draussen fühlten. «Als Kind wollte ich immer draussen sein. Das hat vielleicht damit zu tun, dass das Haus meiner Eltern anders gebaut ist. Zum See hin haben sie keinen Garten, sondern eine Mauer. Vielleicht hat man früher die besondere Lage nicht so zu schätzen gewusst wie heute», sagt die Bauherrin. Eventuell konnten früher die Menschen weniger vergleichen, durch das Reisen gewannen sie mehr Einsichten. So oder so reflektiert die Architektur doch immer die Werte der Gesellschaft. «Obwohl oder weil ich viel gereist bin, bedeutet es für mich Luxus, in Mondacce zu leben. Der Blick auf den See beeindruckt mich selbst immer wieder, auch wenn ich diesen Ausblick von klein auf kenne. Manchmal sitze ich auf der Terrasse mit einem Glas Wein, geniesse und fotografiere den Sonnenuntergang.»

Die Wandelbarkeit des Hauses ist insofern berücksichtigt, als dass die Wand beim Gäste-WC entfernt werden könnte, um beide Wohneinheiten zu verbinden. Ebenso kann das Haus mit einer Photovoltaikanlage nachgerüstet werden. Ansonsten hat man die Pläne nicht weiter an sich ändernden Bedürfnissen ausgerichtet. «Vielleicht brauchen wir irgendwann beide Wohnungen, vielleicht wohne ich irgendwann in der kleineren und vermiete die grosse, wer weiss», sagt die Bauherrin, «Ich habe in den letzten Jahren gelernt, dass man zwar bis zu einem gewissen Punkt Pläne schmieden kann, aber man nie weiss, was die Zukunft bringt. Man muss sich anpassen. So sehe ich das auch beim Haus. Man kann es lieben und leben, aber man muss die Kraft haben, sich davon zu trennen, wenn es eines Tages nicht mehr passt.»

Der Garten ist schmal und zeichnet die Konturen der Hausform nach.
Der Garten ist schmal und zeichnet die Konturen der Hausform nach.
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