Kontext definiert Form

Dieser Vollholzneubau besticht optisch durch eine ungewöhnliche Dachform gerade diese gab den Ausschlag, dass die Hausbesitzer die Baubewilligung im traditionell gestimmten, alpinen Dorf Rossa erhielten.

Der Neubau mit atypischer Dachform sticht heraus, fügt sich aber dennoch in das traditionelle Dorfbild ein. Betrachtet man jeweils nur eine Seite des Hauses, wirkt die Dachkrone aus vier Zacken wie ein einziges Satteldach.
Die beson- dere Dachform wird innen durch die Sichtdecke erlebbar.

Den holzturm ähnlichen Bau erblickt man bereits eingangs der Bündner Gemeinde Rossa. Das Wohnhaus scheint im zwei Meter tiefen Schnee zu versinken. Neben der Schneemasse sticht besonders die aussergewöhnliche Form des Daches ins Auge. Die kubische Struktur bricht ab einem gewissen Punkt nach oben weg. Die mit horizontal verlaufenden, gehobelten Lärchenholzlamellen verkleidete Fassade streckt sich von 5,40 bis 8,20 Meter in die Höhe. Hinter dem turmartigen Neubau gliedert sich ein denkmalgeschütztes Bauernhaus aus den 1850er Jahren an. Verbindungsstück ist ein schlauchförmiger Korridor, der den Hauseingang bildet. Das einstige Bauernhaus gehörte der Mutter des Bauherrn. Er wiederum nutzte es mit seiner Familie jahrelang als Feriendomizil. Mehr und mehr verbrachten sie ihre freie Zeit an diesem Ort. «Zuerst waren wir am Wochenende hier, dann reisten wir jeweils schon donnerstags an. Schliesslich blieben wir bis Montagmorgen und fuhren von hier aus direkt zur Arbeit», erzählt der Hausbesitzer Athos Gianatti. Das für die Gegend traditionelle Berghaus aber war für den Lebensalltag einer fünfköpfigen Familie ungeeignet. Deshalb nutzte man den Gartenbereich um. Auf einem quadratischen Grundriss von 7 × 7 Metern entstand dieser Holz Neubau, der nun fester Wohnsitz des Ehepaars ist. Den alten Hausteil bewohnen die Kinder.

Für den Architekten Davide Macullo ist dieses Wohnhaus ein Anschauungsbeispiel dafür, wie ein äusserst kompaktes Volumen zentral für die Umgebung wird. Der Eingriff in die raue und traditionell bebaute Gegend ist gerade für die bestehenden Bauernhäuser von Bedeutung, interpretiert doch der Neubau den Zustand der historisch vorhandenen Kultur neu und verbindet sie auf instinktive Art mit einer gegenwärtigen Vision des Wohnens. Besonders die einfache Architektur des Hauses erlaubt eine deutliche Wahrnehmung der Struktur der alpinen Siedlung, die von steilen, schroffen Bergwänden umgeben ist.

Mit der Symmetrie gebrochen

Alles andere als Einfachheit verkörpert das nach innen gedrehte vierteilige Satteldach. In der Mitte des quaderförmigen Hauses, wo sich das Dach in die Tiefe neigt, misst die innere Raumhöhe etwas über sieben Meter. «Ursprünglich haben wir das Haus als Turm mit Flachdach geplant», sagt Athos Gianatti. Als sie die Baubewilligung dafür erhalten hatten und schon Küche und Bad ausgewählt und gekauft hatten, legte die Gemeinde doch noch ein Veto ein. «Hier kam Davide Macullo ins Spiel. Von ihm stammt die Idee mit dem aussergewöhnlichen Dach», erzählt der Hausbesitzer weiter. «Die komplexe Struktur ist die Folge einer Analyse des Kontextes, also der verschiedenen Dachtypen und Neigungen im Dorf Rossa», erklärt Davide Macullo die Architektur.

Tatsächlich nimmt man die überraschende Form erst wahr, wenn man im Wohnraum steht. Bei der Einfahrt ins Dorf sieht man zwar schräge Dachflächen, die jedoch bei der Weiterfahrt wieder aus dem Blickwinkel verschwinden. Erst wenn man im kleinen Baukörper steht, erlebt man das Dach, das durch seine Form den Raum auf unerwartete Weise betont. «Die primäre Struktur des Kubus beruhigt und lässt die Schwerkraft spüren, die uns fest an die Erde bindet, während seine spiralförmige Entwicklung nach oben die Symmetrie bricht, den Raum damit dynamisch und leicht wie die Flügel eines Vogels macht», fasst der Architekt das Raumambiente zusammen.

Für ein luftiges Höhengefühl

Auch im Inneren des Hauses ist Holz allgegenwärtig–Boden, Wände und Decke sind aus Dreischicht Federkern Holz geschaffen. Genauso präsent sind überall im Haus die umgebende Bergwelt und der auf der gegenüberliegenden Talseite in die Tiefe rauschende Wasserfall. «Er ist der Grund für die über die Gebäudehöhe verlaufende und Richtung Süden gerichtete Verglasung», sagt Athos Gianatti. Weiter verrät der passionierte Jäger und Fischer, dass man vom Wohnzimmer aus Gämsen, Rehe und Hirsche in ihrer natürlichen Umgebung beobachten und bewundern könne. «In Rossa lebt man die Natur. Hier haben wir alles, was wir brauchen.»

Mehr aber noch geniesst die Bauherrschaft in der Abgeschiedenheit der Alpenwelt gemütliche Stunden mit Freunden und Familie. Davon zeugen der grosszügige Weinkühler, die ausladende Arbeitsfläche der Kochinsel aus Keramik in Gusseisenoptik sowie der quadratische Esstisch mit seinen acht Sitzplätzen. «Den Tisch haben wir aus Baumstämmen selbst gebaut», sagt der Hausherr. Dabei hatte die Familie Hilfe vom Schreiner im Dorf. Auch die Tischfusse aus Stahl stammen von einem Fachmann aus dem Dorf.

Das Schlafzimmer befindet sich auf der oberen Etage und ist ein einziger offener Raum. Neben dem Bett ist die Badewanne, im Kubus daneben das WC.
Der kompakte Grundriss gewinnt dank der geschossübergreifenden Inszenierung des Essbereichs an Grosszügigkeit.
Genuss wird gelebt, nicht nur durch den architektonischen Fokus auf die Aussicht, sondern auch durch die Ästhetik der Küche.

Im hinteren Teil der Küche ist ein kubischer, aus gespachtelten Zement bestehender Speicherofen positioniert. Direkt davor hat die Familie die Sofalandschaft eingerichtet. Der kompakte Ofen hat es wärmetechnisch in sich, ist er doch die einzige Heizquelle des Neubaus. Der Ofen aber genügt, um den überhohen Raum in ein wohlig warmes Ambiente zu hüllen. Hangseitig angelegt, führt eine schmale Holztreppe ins Schlafzimmer mit Ankleide, das als Galerie konzipiert ist, sowie zur im Raum befindlichen Badewanne. Waschtisch und WC sind mit eingezogener Holzwand von der Wanne abgeschirmt. Durch die offene Raumstruktur profitiert das obere Geschoss ebenfalls von der nach Süden gerichteten Fensterfront hinsichtlich Ausblick und Tageslicht.

Gute Kommunikation als A und O

Anhand dieser beiden Elemente–Licht und fliessende Strukturen–nahm die ursprüngliche Hausidee ihren Lauf. «Es gibt keinen Augenblick und keinen Tag, an dem ich das Leben hier nicht in vollen Zügen geniesse», sagt Bauherren Pamela Gianatti. Vorteilhaft sei sicher gewesen, dass sie bereits 20 Jahre zuvor in einem Haus gelebt hätten. «Wir wussten also, worauf wir beim Neubau achten mussten», sagt sie weiter. Dass der Hausbau aber so erfolgreich und speditiv vonstattenging, hat laut Pamela Gianatti aber auch mit den Handwerkern und den Lieferanten zu tun: «Sie haben uns zugehört.» Athos Gianatti ergänzt: «Natürlich gab es im Planungsprozess Diskussionen und Fragen, die wir klären mussten. Ab dem Spatenstich aber war alles klar, und es wurde zügig gearbeitet.» Trotz der bautechnisch anspruchsvollen Lage auf über 1000 Metern–Anlieferung von Fenstern und Holzelementen erfolgte aus der Luft–war das Vollholzhaus innerhalb von sechs Monaten bezugsbereit. Seither ist die schroffe Bergwelt der Bündner Alpen um eine markante architektonische Facette reicher, und die Familie Gianatti genießt das Rauschen von Wasser und den Wind in den Wäldern.

Blick auf die Westfassade: Die Durchsicht verleiht dem Neubau Leichtigkeit und lässt an trüben Tagen viel Tageslicht ins Haus.
Blick auf die Westfassade: Die Durchsicht verleiht dem Neubau Leichtigkeit und lässt an trüben Tagen viel Tageslicht ins Haus.
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