Tipps vom Profi: Verschmelzung widerspiegelt den sozialen Wandel

Die Küche zieht ins Wohnzimmer, das Bad rückt näher an die Ankleide und das Schlafzimmer. Welche Chance das Verschmelzen von Räumen für die Innenarchitektur und seine Bewohner bietet, verrät Go-Interiors-Inhaberin Nicole Gottschall.

Tipps vom Profi: Verschmelzung widerspiegelt den sozialen Wandel
Wenn sich das Wohnzimmer und die Küche näher kommen, gilt es, bei der Ausstattung auf wenige, aber in sich stimmige Materialien zu achten.
Interview Lina Giusto | Fotos Go Interiors
Die Küche zieht ins Wohnzimmer, das Bad rückt näher an die Ankleide und das Schlafzimmer. Welche Chance das Verschmelzen von Räumen für die Innenarchitektur und seine Bewohner bietet, verrät Go-Interiors-Inhaberin Nicole Gottschall.
Nicole Gottschall, in der heutigen Zeit wird gern offen und mit fliessenden Übergängen zwischen den Räumen gebaut. Welche Anforderungen stellt dieses Verschmelzen der Räume an die Innenarchitektur?
Ziel ist es, diese Räume als Ganzes wahrzunehmen, deshalb gehen Materialien und Farben ineinander über, wenn sie nicht sogar gleich sind. Beispielsweise wird der Bodenbelag bei der Küche nicht mehr getrennt, was veränderte Anforderungen an die Benutzerfreundlichkeit mit sich bringt. Die Küche will nicht mehr nur als Küche wahrgenommen werden, sondern als sozialer Lebensraum. So verschwinden hängende Hauben über den Kochinseln.Früher war die Küche ein abgeschlossener Raum, heute ist sie wohnlicher Teil des Ess-, und des Wohnbereichs. Worauf muss man bei der Einrichtung besonders achten?
Materialien sollten stimmig über alle Räume eingesetzt werden. So können sich beispielsweise Holzelemente aus dem Wohnbereich beim Bartresen, bei der Küchenabdeckung oder der Front widerspiegeln. Farben harmonieren miteinander, Leitfarben zeigen sich verschmelzend in allen Bereichen. Textilien bringen nicht nur optische Wärme, sondern auch Schalldämmung. Vorhänge im Wohnbereich finden sich oft als Jalousie in der Küche wieder. Aber Achtung: Eine regelmässige Reinigung muss möglich sein, gerade bei Textilien in der Küche. Licht lässt zusätzlich die Räume ineinander übergehen, deshalb wird das funktionale Lichtkonzept in offene Küchenbereiche weitergezogen. Dabei ist zu beachten, dass der Bereich der Zubereitung und des Kochens mehr Licht braucht, weshalb es unbedingt dimmbare Zonen benötigt. Das Licht muss individuell eingestellt werden können. Wohngefühl erreicht man durch die Integration dekorativen Lichts mittels Steh-, Tisch- und Wandleuchten.

Welche Chancen bietet diese architektonische Entwicklung dem Interior-Design?
Das Schönste an dieser Entwicklung ist die Rückkehr zum Sinn unseres Berufs: Wir schaffen Lebensräume, um den Menschen ein Umfeld zu geben, in dem sie ihren Alltag positiv erleben können. Das Verschmelzen der Räume widerspiegelt den sozialen Wandel: Wohnen definiert sich als soziale Interaktion – mit dem Raum, mit der Familie, mit den Beziehungen untereinander. Darin liegt die Chance, Menschen in ihrem Alltag und ihrem Sein zu unterstützen und so ein bisschen glücklicher zu machen.

Auch das Badezimmer wandelt sich zur Wellnessoase und ist bereits ein deutliches Stück näher ans Schlafzimmer gerückt. Welche Vor- und Nachteile hat diese Annäherung aus innenarchitektonischer Sicht?
Um die Jahrtausendwende waren die Versuche zur Verschmelzung noch augenscheinlicher. Damals galt es als hip, offene Badezimmer und vielfach sogar offene Toiletten zu bauen. Davon ist man mittlerweile zum Glück abgekommen. Badezimmer dienen heute als Rückzugszone und werden deshalb als Raum mit Wellnesscharakter umgesetzt. Menschen brauchen Momente des Rückzugs aus der lauten Welt; das kann nirgendwo so gut zelebriert werden als in einem Raum «für sich». Hier tut man sich selbst Gutes und schliesst die Welt für einen Moment aus. Die Rückzugszone, bestehend aus Schlafzimmer, Badezimmer, Ankleide, ist ein intimer Raum. Dass sie ineinanderfliessen, hat meist alltägliche Gründe: vom Bett ins Bad in die Ankleide und dann raus in die Welt. Ich persönlich finde diese sozialen Zonierungen toll, es gibt private Bereiche für den Rückzug und es gibt soziale Bereiche für den Austausch. Der Nachteil ist, dass solche Zonierungen einen grösseren Raumbedarf mit sich bringen und dass der grosse Teil der bestehenden Wohnungen in der Schweiz diesem gesellschaftlichen Wunsch nach Rückzug nicht ausreichend Rechnung trägt.

Was gilt es, bei der Materialisierung von Schlaf- und Badbereich zu berücksichtigen?
Vergessen Sie die Ankleide nicht – diese gehört mittlerweile als fester Bestandteil in diese Zone. Das Bad wird wohnlich gebaut, oft mit Sitzmöglichkeiten und warmen Materialien. Wände werden nicht mehr, ausser im Nassbereich, bis unter die Decke gefliest, sondern verputzt. Die Nassräume gleichen sich den Wohnräumen und ebenso dem Schlafzimmer an. Auch hier werden die Räume beim Bodenbelag oft nicht mehr getrennt. Parkett kommt vermehrt auch im Bad zum Einsatz. Lichtquellen lassen sich individuell steuern, je nach Tageszeit und Bedürfnis. Glaswände werden wegen des erhöhten Reinigungsbedarfs reduzierter eingesetzt. Farben und Materialien befinden sich in einem fliessenden Miteinander.

Die Terrasse wird mehr und mehr zum Outdoor-Wohnzimmer. Auch hier entsteht das Bedürfnis nach einem fliessenden Übergang zwischen innen und aussen. Welche Einrichtungstipps sorgen für ein stimmungsvolles Ambiente?
Auch das Outdoor-Wohnzimmer widerspiegelt einen gesellschaftlichen Trend. Der Aussenraum ist zugleich Entspannungszone und Gemeinschaftsraum. Durch die Inspiration aus wärmeren Ländern wünschen wir uns Ferienfeeling für das Zuhause – das schenkt uns einen Moment des Geniessens und Loslassens. «Inside-Out – Outside-In» entspricht dem Prinzip, dass die Flächen innen wie aussen ineinandergehen und deshalb auch hier auf fliessende Materialien, Übergänge, Farben, Licht und Möblierungen Rücksicht genommen werden muss. Die Möblierung soll zum Verweilen einladen, Farben passen sich dem Innenraum an, Bodenbeläge sollen visuell den Raum erweitern, also ähnlich dem Innenbelag gewählt werden. Licht trägt entscheidend dazu bei, dass ich mich auch in der Dämmerung wohlfühle und der Aussenraum optisch erweitert wird. Direktes Licht sollte nur in Form von dekorativen Leuchten eingesetzt werden. Kerzen und Laternen steigern die Romantik. Grünpflanzen dürfen auf keinen Fall fehlen, auch auf kleinstem Raum nicht. Denn Grün hilft der Entspannung und verstärkt das Gefühl, draussen zu sein.

Wie verhindert man, dass man sich in einem Haus, das sich von Raum zu Raum durch fliessende Übergänge charakterisiert, nicht verloren fühlt?
Schall ist beim offenen Wohnkonzept ein grosses Thema. Durch hallende Geräusche fühle ich mich wie in einer Halle. Das lässt keine Geborgenheit aufkommen. Trotz offener, übergehender Räume ist es sinnvoll, sie mit Raumtrennern zu zonieren. Gemütlichkeit setzt Nähe und begrenzten Raum voraus. Zonen helfen, den Raum optisch zu definieren. Mit inszenierten Lichtinseln oder auch Teppichen im Wohnbereich können optische Abgrenzungen sehr gut umgesetzt werden.

Wie sind Privatsphäre und Rückzug mit sich verschmelzenden Räumen vereinbar?
Räume definieren sich über ihre Funktion. So hat der Wohnraum die Funktion des Beisammenseins und charakterisiert sich als sozialer Interaktionsraum oder als Begegnungszone. Schlafbereiche sind Rückzugsorte, an denen die Bewohner zur Ruhe kommen können. Meist liegt zwischen diesen Räumen ein Korridor oder ein Treppenhaus – das fungiert als natürliche Trennung der Zonen. Insofern sind Zonen innerhalb ihrer selbst verschmelzbar. Jedoch ist eine Verschmelzung von Begegnungs- und Ruhezone als solches nicht zu befürworten.

Welche Einrichtungs-No-Gos bei zueinander offen liegenden Räumen gibt es?
Offene Toiletten und Badezimmer, Badewannen im Schlafzimmer, Badezimmer ohne direkten Zugang zur Ankleide. Stilbrüche zwischen den Zonen, Küchen ohne Reduit oder zumindest Stauzonen. Begegnungszonen ohne klaren Treffpunkt tragen nicht zur sozialen Interaktion bei, grosse Fensterflächen ohne Vorhänge können sehr kühl wirken. Farbakzente ohne Einbindung ins Ganze ruinieren die Atmosphäre genauso wie viele wechselnde Materialien.

Tipps vom Profi: Verschmelzung widerspiegelt den sozialen Wandel
Ein möglicher Grundriss, der aufzeigt, wie sich Begegnungs- und Ruhezone anordnen und einrichten lassen. Das Treppenhaus wird dabei zur natürlichen Trennung zwischen den Bereichen.
Tipps vom Profi: Verschmelzung widerspiegelt den sozialen Wandel
Weiche Textilien, wenige und harmonierende Farben – so schafft man eine angenehme Atmosphäre für einen Rückzugsort.
Tipps vom Profi: Verschmelzung widerspiegelt den sozialen Wandel
Diskrete Nähe: Eine Schiebetür trennt die frei stehende Badewanne vom Schlafbereich ab.
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Nicole Gottschall, Inhaberin Go Interiors GmbH, Innenarchitektin VSI.ASAI., Dozentin an der SHL Luzerngo-interiors.ch
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