Introvertierte Offenheit
Wie gestaltet man ein Haus für ein Ehepaar, das ganz unterschiedliche Ansprüche an die eigenen vier Wände hat? Das Architekturstudio Parisotto + Formenton beantwortet diese Frage mit einem Bau, der offen und geschlossen, feminin und maskulin zugleich ist.

Kunstvolle Architektur
Diese kontrastierenden Angaben verdichteten Parisotto + Formenton zu einem eindrücklichen Haus. Ineinanderfliessende Räume verleihen ihm eine Atmosphäre der Offenheit. Zugleich strahlt es aber auch Geborgenheit aus. Der private Garten und das in sich gerichtete Haus widerspiegeln die weitläufige Landschaft und die schützende Präsenz der Alpen. Um diesen Effekt zu erzielen, haben die Architekten zwei Hauptthemen für das Design des Hauses gewählt: Introspektion und Material-Einheit. Entstanden ist ein Gebäude, das aus zwei grossen Baukörpern auf zwei Ebenen besteht und zahlreiche Aussen- und Innenräume bildet. «Wir glauben, das Haus mutet beinahe wie eine grosse abstrakte Metallskulptur des baskischen Künstlers Jorge Oteiza an», sagt Aldo Parisotto. «Als Hauptmaterialien haben wir Stein und Beton eingesetzt», führt Massimo Formenton aus. «Wir haben den Beton mehrmals getestet, um eine natürlich und hochwertig wirkende Oberfläche zu schaffen. Das obere Stockwerk haben wir komplett mit grauen Basaltplatten verkleidet, die einen Kontrast zum weissen Erdgeschoss schaffen.» Derselbe Stein kam auch als Bodenbelag im Aussenraum und in den Innenhöfen zum Einsatz sowie als Treppenbelag im Hausinnern. «So haben wir einen monolithischen Effekt und Materialeinheit geschaffen», erklärt Formenton. Je nach Wetter, Tages- und Jahreszeit legt der Stein unterschiedliche Farben und Schattierungen an den Tag. «Wenn wir Räume gestalten, denken wir an die Emotionen, welche die Menschen in diesen Räumen empfinden werden», sagt Parisotto. «Deshalb achten wir darauf, dass das Licht, ob natürlich oder künstlich, die Oberflächen der Wände aus verschiedenen Blickwinkeln zum Leben erweckt.»
Die unterschiedlichen Öffnungen – Fenster, Oberlichter und Innenhöfe – schaffen Licht- und Schatten-Effekte im Hausinnern. Dabei dienen das Licht und die Schatten der umgebenden Bäume als ein sich immer veränderndes dekoratives Element an den schlichten architektonischen Wänden. Licht- und Schattenbereiche verändern sich stetig im Lauf des Tages. «Die offenen Räume dieses Hauses erlauben einen freien Fluss von Licht und Energie», erklärt Parisotto. «Der geradlinige Architekturstil ist maskulin, aber die Texturen der Materialien, die Details, die kleinen, gemütlichen Ecken und die gezielten Farbakzente verleihen dem Haus einen weichen, femininen Touch.»
Wie ein Teleskop
Wer das Haus durch den Haupteingang betritt, findet sich zunächst in einem langen Gang wieder. Der Korridor, der das Haus wie eine Wirbelsäule durchdringt, führt von den «öffentlichen» zu den privaten Räumen. Die Architekten basierten den Grundriss auf den Prinzipien traditioneller japanischer Architektur, die miteinander verbundene Räume als Kernidee beinhaltet. «Um unser zweites Design-Thema, die Introspektion, zu berücksichtigen, haben wir die Architektur des Hauses nach innen gerichtet», sagt Formenton. «Nur wenige Räume sind zum Garten und zur umliegenden Landschaft offen.» Mehrere geschickt platzierte Innenhöfe versorgen die restlichen Räume mit Tageslicht. So öffnen sich Küche und Wohnbereich ausschliesslich zu geschlossenen Innenhöfen. Die einzigen Räume mit grosszügiger Verglasung direkt zum Garten sind die Schlaf- und Büroräume an der Stirnseite des Hauses. Das längliche Haus könnte mit einem steinernen Teleskop verglichen werden, das auf den Wald gerichtet ist. Von drei Seiten verschlossen, öffnet sich das Gebäude an der Stirnseite durch eine komplett verglaste Wand zum Wald.
Die Einrichtung ist leicht und minimalistisch. Die Hausbesitzer wollten ein ruhiges und simples Interieur, reduziert auf das Wesentliche und ohne Schnickschnack. Wenige Materialien kamen im Hausinneren zum Einsatz: Dunkles Holz harmoniert mit Sichtbeton, die restlichen Oberflächen sind schwarz oder weiss. Die Hausbewohner und ihre Gäste bewegen sich barfuss im Haus, was zur ruhigen, beinahe meditativen Atmosphäre beiträgt. Der Fokus liegt auf den hochwertigen Oberflächen, beispielsweise auf den Sichtbetonwänden mit ihrer lebendigen Textur, die keine Dekoration braucht. Die Farbschemen im Haus reichen von Chanel-inspiriertem Schwarz-Weiss bis zu Grau mit kleinen Farbakzenten. Diese Farbflecken und das warme Licht von Deckenspots und Stehlampen entschärfen die strengen Linien der Architektur. Der Minimalismus setzt sich in der Möblierung fort, die nur aus wenigen essenziellen Möbelstücken besteht. Das ermöglicht eine freie Zirkulation von Luft und Licht und lässt die Möbel effektvoll zur Geltung kommen: als Dekorationsobjekte, die auch einen funktionalen Zweck erfüllen. Um die Räume frei von Unnötigem zu halten, sind alle Gebrauchsgegenstände in Einbauschränken verstaut, die zugleich auch als Raumteiler dienen.
Die minimalistische, geometrische Schlichtheit des Hauses und der Einsatz natürlicher Materialien schaffen einen Eindruck von moderner Eleganz. Dieser Eindruck wird durch die rechteckig geschnittenen Buchsbaumhecken im Garten noch verstärkt. «Wir möchten, dass sich unsere Kunden in den Häusern, die wir für sie bauen, wiedererkennen und sich darin wohlfühlen», sagt Formenton. Die Hausbesitzer geben ihnen Recht: Ihr Haus ist offen und fliessend, mit Räumen, die miteinander kommunizieren und harmonieren und in denen sie sich allein oder mit Gästen wohlfühlen können.
Architekten-Interview
Aldo Parisotto und Massimo Formenton, was war die grösste Herausforderung beim Bau dieses Hauses ?
Am meisten Zeit haben die Vorbereitungen für die Sichtbetonwände in Anspruch genommen. Wir haben die Oberflächengestaltung ausgiebig getestet, da wir etwas wollten, das zwar kompakt aussieht, aber dank sichtbarer Körnung etwas uneben ist. Wir haben sehr viel experimentiert, um etwas zu schaffen, das sehr natürlich aussieht.
Was schätzen Sie am Material Sichtbeton ?
Wird mögen seine Plastizität und die Möglichkeit, mit den Oberflächen zu spielen. Dieses Haus ist Teil unserer fortlaufenden Nachforschungen über Sichtbeton, nicht nur als Baumaterial, sondern auch als dekoratives Element. Deshalb experimentieren wir viel mit der Schalung und dem Abdruck, den sie an der Oberfläche hinterlässt.
Was würden Sie jemandem raten, der ein Einfamilienhaus für sich bauen möchte?
Wir raten Bauherrschaften davon ab, im Netz nach anderen Häusern zu suchen. Andere Häuser widerspiegeln die Stimmungen und Vorlieben anderer Leute. Stattdessen sollte die Bauherrschaft ein Vertrauensverhältnis zu ihrem Architekten aufbauen und ihre eigenen Gefühle, Wünsche und Ansprüche kommunizieren. So entsteht ein Haus, das auf seine Bewohner abgestimmt ist und nicht kurzlebigen Trends nachjagt.
Wie sieht die Zukunft des Wohnens aus?
Häuser verändern sich mit neuen Verhaltensweisen und Lebensstilen. Das Konzept von separaten Zimmern mit unterschiedlichen Funktionen ist überholt. Die Grenzen zwischen dem Privat- und dem Berufsleben verschwimmen. Das Zuhause ist noch immer ein Rückzugsort, in dem man sich erholt und Zeit mit den Liebsten verbringt, aber es ist auch ein Homeoffice und ein Ort der Begegnungen. Die Grundrisse und die Atmosphäre moderner Wohnbauten reflektieren das.
Sie haben Wohnhäuser, öffentliche Bauten, Ladengeschäfte, sogar Jachten gestaltet. Was haben Ihre Projekte gemeinsam ?
All unsere Projekte teilen sich die Sorgfalt, mit der wir Oberflächen, Materialien und Details aussuchen. Besonders viel Aufmerksamkeit schenken wir dem Licht, ob künstlich oder natürlich. Licht ist für uns ein Baumaterial.
TECHNISCHE ANGABEN


[ ARCHITEKTUR ]
Parisotto + Formenton architetti | Padova (IT), Mailand (IT) parisottoeformenton.it
[ KONSTRUKTION ]
Massivbau | Flachdach | Fassade: Basalt-Platten
[ Raumangebot ]
Wohnfläche: 600 m² | Anzahl Zimmer: 9,5
[ Ausbau ]
Boden: Parkett | Wände: Sichtbeton, Verputz | Decken: Verputz
[ Technik ]
Zwei Luft-Wasser-Wärmepumpen | Bodenheizung | Cheminée | 20-kW-Photovoltaik-Anlange | Solar-Anlage | Kühlsystem | zentrale Steuerung von Siemens




















