Architektur am Weg

Wenn ein Bauherr mit streng traditionellem Geschmack einen Architekten beauftragt, der für modernste Architektur bekannt ist, kommt es unweigerlich zu Reibereien. Dass daraus dennoch ein fantastisches Haus entstehen kann, zeigt das «By the way house» in Polen.

Architektur am Weg
Die Zufahrtsstrasse wickelt sich dreimal ums Obergeschoss und löst sich auf der anderen Hausseite als Steg, der in den Garten und weiter hinunter zum Fluss führt.
Text Anna Ettlin | Fotos Jarosław Syrek, Juliusz Sokoàowski, Olo Studio
Wenn ein Bauherr mit streng traditionellem Geschmack einen Architekten beauftragt, der für modernste Architektur bekannt ist, kommt es unweigerlich zu Reibereien. Dass daraus dennoch ein fantastisches Haus entstehen kann, zeigt das «By the way house» in Polen.
Unterschiedlicher hätten die Vorstellungen von Bauherr und Architekt kaum sein können. Der Bauherr wünschte sich auf seinem grossen Grundstück in Zentralpolen ein ganz konventionelles Haus, das dieselben Grundrisse und Einrichtung haben sollte wie schon seine Stadtwohnung. Bauen sollte dieses Durchschnittshaus jedoch der renommierte Architekt Robert Konieczny, dessen Studio KWK Promes mit visionärer moderner Architektur internationales Ansehen erlangt hat. Vergeblich versuchte Konieczny den Bauherrn zu überzeugen, dass er nicht der richtige Architekt für das Projekt sei. «Er ist einer der besten Architekten, die ich kenne. Ausserdem ist er ein Pole und somit nahe», begründet der Bauherr. Robert Konieczny blieb nichts anderes übrig, als sich der Herausforderung zu stellen: ein Haus entwerfen, das sowohl seinem Berufsstolz als auch den sturen Vorgaben des Bauherrn entsprechen würde.

Den Weg gefunden

Das grosse Grundstück, auf dem das Haus zu stehen kam, ist malerisch: ein sanft abfallender Hang direkt am Flussufer mit einem alten Haus in der Mitte, gesäumt von einem weitläufigen Obstgarten. Das neue Haus sollte das alte am selben Standort ersetzen. Trotz des schönen Gartens wollte der Bauherr ein Wohnzimmer im Obergeschoss, da er sich so sicherer fühlte. Die Umgebung lag sowohl dem Bauherrn als auch dem Architekten am Herzen: «Wir wollten die Landschaft nicht verunstalten», sagt der Bauherr. Da das Haus in der Mitte des Grundstücks stehen sollte, musste aber eine Zufahrt geplant werden. Hier kam dem Architekten die rettende Idee: Er würde das vom Bauherrn gewünschte konventionelle Haus in diesen Zufahrtsweg «einwickeln». Nach langen Diskussionen war der Kompromiss zwischen Auftraggeber und Architekt endlich gefunden.

Der Weg windet sich dreimal ums Obergeschoss des Hauses. Jede Windung ist etwas grösser als die vorangehende, sodass sich das Stockwerk zum Fluss hin etwas öffnet. Das Erdgeschoss wurde komplett verglast und geht fliessend in den Garten über. Verglichen mit der markanten Gestalt des Obergeschosses tritt es dezent in den Hintergrund. An der Rückseite des Hauses geht die Zufahrtsstrasse in einem rechten Winkel in eine Wand und anschliessend ins Dach über. Diese vorspringenden Elemente markieren den Eingangsbereich und bieten gleichzeitig Schutz vor Regen und Wind. Nachdem sich der Streifen aus hellem Beton und weisser Dachmembran dreimal um die Wohnräume gelegt hat, löst er sich wie ein Band wieder vom Haus, und zwar in Form eines abfallenden Stegs, der vom Balkon im Obergeschoss hinunter in den Garten führt. Sobald der Steg die Erde erreicht, wird er wieder zum Weg, der sich zwischen den Obstbäumen zum Flussstrand schlängelt. Diese einzigartige Architektur gab dem Projekt seinen Namen: «By the way house» – das Haus am Weg.

Vielseitige Ästhetik

Der Weg, der sich schützend um die Räume im oberen Stock schlingt, ist auch im Inneren des Hauses erkennbar. Innenwände aus dunklem Holz schaffen Kontrast zu den hellen Aussenwänden und der Decke. Selbst die Schnittstellen zwischen den einzelnen «Schlaufen», die der Weg ums Haus legt, sind im Hausinneren sichtbar. In ihnen hat Robert Konieczny gekonnt Lüftungsauslässe und LED-Streifen integriert, um das minimalistische Interieur nicht zu stören. Das Schlafzimmer mit Bad und Ankleide, das Wohnzimmer und die Küche liegen im Obergeschoss. Von hier aus geniessen die Hausbewohner eine grossartige Aussicht auf den Fluss. Über den Steg können sie jederzeit direkt aus dem Wohn- und Esszimmer ins Freie gelangen. Das verglaste Erdgeschoss, wo neben der Garage auch Gästezimmer und ein Fitnessstudio untergebracht sind, öffnet sich hingegen komplett zum Obstgarten und ist durch die Bäume vor fremden Blicken geschützt.

«Die Bauphase war wie eine Architekturschule für mich. Am Schluss waren der Architekt und ich uns einig.»
Der Bauherr

«Hätte der Bauherr nicht darauf bestanden, die Wohnräume ins Obergeschoss zu legen, hätten wir sie wie gewohnt im Erdgeschoss geplant, und die Aussicht wäre nie zur Geltung gekommen», sagt Konieczny. «Die speziellen Wünsche des Kunden haben dazu geführt, dass wir eine unkonventionelle Lösung gefunden haben. So haben wir aus diesem Projekt gelernt.» Aber auch für den Bauherrn war die fast siebenjährige Planungs- und Bauphase lehrreich: «Robert ist ein Architekt, der alles gut erklärt und logisch argumentiert», sagt er. «Die Zusammenarbeit mit ihm war für mich wie eine Architekturschule. Mit der Zeit hat sich meine Wahrnehmung von Architektur geändert, sodass Robert und ich uns am Schluss einig waren.» Da gab es beispielsweise den Moment, wo der Bauherr aus Kostengründen auf den Weg und die weisse Dachmembran verzichten wollte. «Ich dachte, das Dach sieht man eh nicht», gibt er zu. Als Robert Konieczny ihm das halbfertige Haus aber von einem nahegelegenen Hügel zeigte, war dem Bauherrn klar: «Dieses Gestaltungselement musste sein. Ich entschloss mich, den Entwurf umzusetzen. Das habe ich nie bereut.»

Auch der Architekt wusste die persönliche Entwicklung seines Kunden zu schätzen. «Heute kann ich mich mit ihm wie mit einem guten Architekten über Architektur und Design unterhalten», sagt er. «Ich war überrascht, als sich sein Sinn für Ästhetik so stark wandelte, dass er statt der traditionellen Einrichtung, die er ursprünglich wollte, ein minimalistisches und modernes Interieur bevorzugte», erinnert sich der Architekt. In enger Zusammenarbeit mit Konieczny hat der Bauherr die moderne Möblierung selbst ausgesucht – mit einem eindrücklichen, neugewonnenen Flair für Design und Stil. «Ich würde rein gar nichts an diesem Haus verändern», sagt der Hausbesitzer. «Es ist der perfekte Ort zum Leben.»

TECHNISCHE ANGABEN

Architektur am Weg
Seitenansicht
Architektur am Weg
Obergeschoss
Architektur am Weg
Erdgeschoss

[ ARCHITEKTUR ]

Robert Konieczny | KWK Promes | kwkpromes.pl

[ KONSTRUKTION ]

Massivbau | Membrandach | Fassade: Verputzte Zementplatten

[ Raumangebot ]

Nettowohnfläche: 598,9 m² | Anzahl Zimmer: 5,5

[ Ausbau ]

Fugenlose Bodenbeläge | Rahmenlose Fenster | Wände: Verputz oder Holz

[ Technik ]

Fussbodenheizung | Wärmepumpe mit Heiz- und Kühlfunktion | Lüftung | Hausautomation

Architektur am Weg
Der Fussweg zum Fluss wurde aus rauem, rutschfestem Beton ausgeführt.
Architektur am Weg
Der Obstgarten, der das grosse Grundstück ziert, wurde während der Bauarbeiten sorgfältig erhalten. Der Weg schlängelt sich zwischen den Bäumen hindurch.
Architektur am Weg
Die Schlaufen, die der Weg um das Haus legt, werden zum Fluss hin weiter, was sich auch durch entsprechende Abstufungen an den Seitenfassaden zeigt.
Architektur am Weg
Auch an der Ostfassade sind die Schlaufen zu erkennen. Das Erdgeschoss ist hier komplett verglast und offen, das Obergeschoss geschlossen.
Architektur am Weg
Der Steg geht fliessend in einen Fussweg über, der zwischen den Obstbäumen den Hang hinunter zum Flussufer führt.
Architektur am Weg
Steg und Fussweg sind rutschfest und auch bei Regenwetter sicher begehbar.
Architektur am Weg
Der Weg ist auch im Hausinneren erkennbar: Er bildet Boden, Decke und Wände im Wohnbereich, allesamt in Weiss gehalten.
Architektur am Weg
Trennwände aus dunklem Holz und vollflächige Verglasungen kennzeichnen das Erdgeschoss. Die Türen sind mit Sensoren gesteuert und kommen ohne Griffe aus – ganz nach dem neu gefundenen minimalistischen Geschmack des Bauherrn.
Architektur am Weg
Einbauschränke wurden direkt in die Aussenwand integriert, um die Optik des umlaufenden Bandes nicht zu durchbrechen.
Architektur am Weg
Eine Innenwand trennt das helle Badezimmer vom Schlafbereich. Das dunkle Holz der Innenwände ist ein bewusster Kontrast zum weissen Band.
Architektur am Weg
Das Erdgeschoss liegt eben mit dem Garten und geht dank rahmenloser Verglasung nahtlos in diesen über.
Architektur am Weg
Da die Zufahrt fast durchgehend betoniert ist, durfte die Fassade, die als ihre Fortsetzung dient, auch keine Fugen aufweisen – eine Herausforderung.
Architektur am Weg
Obwohl das Wohnzimmer gemäss dem Wunsch des Bauherrn im Obergeschoss liegt, erhält es durch den Steg eine direkte Verbindung zum Garten.
Architektur am Weg
Erdgeschoss
Architektur am Weg
Obergeschoss
Architektur am Weg
Seitenansicht
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