Introvertierte Offenheit

Wie gestaltet man ein Haus für ein Ehepaar, das ganz unterschiedliche Ansprüche an die eigenen vier Wände hat? Das Architekturstudio Parisotto + Formenton beantwortet diese Frage mit einem Bau, der offen und geschlossen, feminin und maskulin zugleich ist.

Introvertierte Offenheit
Text Martina Hunglinger, Anna Ettlin | Fotos Mads Mogensen
Wie gestaltet man ein Haus für ein Ehepaar, das ganz unterschiedliche Ansprüche an die eigenen vier Wände hat? Das Architekturstudio Parisotto + Formenton beantwortet diese Frage mit einem Bau, der offen und geschlossen, feminin und maskulin zugleich ist.
Conegliano ist ein kleines Städtchen, das auf einem Hügel in der Nähe von Venedig liegt. Rundum erstrecken sich Weinberge, auf denen unter anderem der allseits beliebte Prosecco angebaut wird. Die Voralpen erheben sich schützend über die Landschaft. In dieser Gegend, in einem ruhigen Quartier nahe dem historischen Zentrum von Conegliano, hat das Architekturstudio Parisotto + Formenton ein grosszügiges Einfamilienhaus auf zwei Ebenen errichtet, umgeben von einem weitläufigen Garten.Die Bauherren, ein Ehepaar, äusserten stark kontrastierende Ansprüche an ihr neues Zuhause. Der Ehemann, ein erfahrener Unternehmer, ist in seiner Freizeit gerne mit dem Mountain Bike oder dem Geländemotorrad unterwegs und wollte ein Haus, in dem er und seine Ehefrau an Abenden und Wochenenden Freunde empfangen können. Eine grosse Küche mit Weinkühler sowie komfortable Ess- und Lounge-Bereiche innen und aussen zählten daher zu seinen Wünschen. Ausserdem wollte der Bauherr ein gut ausgestattetes Outdoor-Fitness-Studio haben, in dem er vor fremden Blicken geschützt trainieren könnte. Die Bauherrin hingegen hat eine grosse Liebe für Kunst, Mode und Schönheit in allen Formen und verbringt viel Zeit in Spanien und Griechenland. Sie wollte ein schlichtes und elegantes Haus. Ausgehend von ihrer Liebe für Mode und Design, nahmen sich die Architekten die Schwarz-Weiss-Kontraste und klaren Linien von Coco Chanel als Inspiration.

Kunstvolle Architektur

Diese kontrastierenden Angaben verdichteten Parisotto + Formenton zu einem eindrücklichen Haus. Ineinanderfliessende Räume verleihen ihm eine Atmosphäre der Offenheit. Zugleich strahlt es aber auch Geborgenheit aus. Der private Garten und das in sich gerichtete Haus widerspiegeln die weitläufige Landschaft und die schützende Präsenz der Alpen. Um diesen Effekt zu erzielen, haben die Architekten zwei Hauptthemen für das Design des Hauses gewählt: Introspektion und Material-Einheit. Entstanden ist ein Gebäude, das aus zwei grossen Baukörpern auf zwei Ebenen besteht und zahlreiche Aussen- und Innenräume bildet. «Wir glauben, das Haus mutet beinahe wie eine grosse abstrakte Metallskulptur des baskischen Künstlers Jorge Oteiza an», sagt Aldo Parisotto. «Als Hauptmaterialien haben wir Stein und Beton eingesetzt», führt Massimo Formenton aus. «Wir haben den Beton mehrmals getestet, um eine natürlich und hochwertig wirkende Oberfläche zu schaffen. Das obere Stockwerk haben wir komplett mit grauen Basaltplatten verkleidet, die einen Kontrast zum weissen Erdgeschoss schaffen.» Derselbe Stein kam auch als Bodenbelag im Aussenraum und in den Innenhöfen zum Einsatz sowie als Treppenbelag im Hausinnern. «So haben wir einen monolithischen Effekt und Materialeinheit geschaffen», erklärt Formenton. Je nach Wetter, Tages- und Jahreszeit legt der Stein unterschiedliche Farben und Schattierungen an den Tag. «Wenn wir Räume gestalten, denken wir an die Emotionen, welche die Menschen in diesen Räumen empfinden werden», sagt Parisotto. «Deshalb achten wir darauf, dass das Licht, ob natürlich oder künstlich, die Oberflächen der Wände aus verschiedenen Blickwinkeln zum Leben erweckt.»

Die unterschiedlichen Öffnungen – Fenster, Oberlichter und Innenhöfe – schaffen Licht- und Schatten-Effekte im Hausinnern. Dabei dienen das Licht und die Schatten der umgebenden Bäume als ein sich immer veränderndes dekoratives Element an den schlichten architektonischen Wänden. Licht- und Schattenbereiche verändern sich stetig im Lauf des Tages. «Die offenen Räume dieses Hauses erlauben einen freien Fluss von Licht und Energie», erklärt Parisotto. «Der geradlinige Architekturstil ist maskulin, aber die Texturen der Materialien, die Details, die kleinen, gemütlichen Ecken und die gezielten Farbakzente verleihen dem Haus einen weichen, femininen Touch.»

Wie ein Teleskop

Wer das Haus durch den Haupteingang betritt, findet sich zunächst in einem langen Gang wieder. Der Korridor, der das Haus wie eine Wirbelsäule durchdringt, führt von den «öffentlichen» zu den privaten Räumen. Die Architekten basierten den Grundriss auf den Prinzipien traditioneller japanischer Architektur, die miteinander verbundene Räume als Kernidee beinhaltet. «Um unser zweites Design-Thema, die Introspektion, zu berücksichtigen, haben wir die Architektur des Hauses nach innen gerichtet», sagt Formenton. «Nur wenige Räume sind zum Garten und zur umliegenden Landschaft offen.» Mehrere geschickt platzierte Innenhöfe versorgen die restlichen Räume mit Tageslicht. So öffnen sich Küche und Wohnbereich ausschliesslich zu geschlossenen Innenhöfen. Die einzigen Räume mit grosszügiger Verglasung direkt zum Garten sind die Schlaf- und Büroräume an der Stirnseite des Hauses. Das längliche Haus könnte mit einem steinernen Teleskop verglichen werden, das auf den Wald gerichtet ist. Von drei Seiten verschlossen, öffnet sich das Gebäude an der Stirnseite durch eine komplett verglaste Wand zum Wald.

Die Einrichtung ist leicht und minimalistisch. Die Hausbesitzer wollten ein ruhiges und simples Interieur, reduziert auf das Wesentliche und ohne Schnickschnack. Wenige Materialien kamen im Hausinneren zum Einsatz: Dunkles Holz harmoniert mit Sichtbeton, die restlichen Oberflächen sind schwarz oder weiss. Die Hausbewohner und ihre Gäste bewegen sich barfuss im Haus, was zur ruhigen, beinahe meditativen Atmosphäre beiträgt. Der Fokus liegt auf den hochwertigen Oberflächen, beispielsweise auf den Sichtbetonwänden mit ihrer lebendigen Textur, die keine Dekoration braucht. Die Farbschemen im Haus reichen von Chanel-inspiriertem Schwarz-Weiss bis zu Grau mit kleinen Farbakzenten. Diese Farbflecken und das warme Licht von Deckenspots und Stehlampen entschärfen die strengen Linien der Architektur. Der Minimalismus setzt sich in der Möblierung fort, die nur aus wenigen essenziellen Möbelstücken besteht. Das ermöglicht eine freie Zirkulation von Luft und Licht und lässt die Möbel effektvoll zur Geltung kommen: als Dekorationsobjekte, die auch einen funktionalen Zweck erfüllen. Um die Räume frei von Unnötigem zu halten, sind alle Gebrauchsgegenstände in Einbauschränken verstaut, die zugleich auch als Raumteiler dienen.

Die minimalistische, geometrische Schlichtheit des Hauses und der Einsatz natürlicher Materialien schaffen einen Eindruck von moderner Eleganz. Dieser Eindruck wird durch die rechteckig geschnittenen Buchsbaumhecken im Garten noch verstärkt. «Wir möchten, dass sich unsere Kunden in den Häusern, die wir für sie bauen, wiedererkennen und sich darin wohlfühlen», sagt Formenton. Die Hausbesitzer geben ihnen Recht: Ihr Haus ist offen und fliessend, mit Räumen, die miteinander kommunizieren und harmonieren und in denen sie sich allein oder mit Gästen wohlfühlen können.

Architekten-Interview

Aldo Parisotto und Massimo Formenton, was war die grösste Herausforderung beim Bau dieses Hauses ?

Am meisten Zeit haben die Vorbereitungen für die Sichtbetonwände in Anspruch genommen. Wir haben die Oberflächengestaltung ausgiebig getestet, da wir etwas wollten, das zwar kompakt aussieht, aber dank sichtbarer Körnung etwas uneben ist. Wir haben sehr viel experimentiert, um etwas zu schaffen, das sehr natürlich aussieht.

Was schätzen Sie am Material Sichtbeton ?

Wird mögen seine Plastizität und die Möglichkeit, mit den Oberflächen zu spielen. Dieses Haus ist Teil unserer fortlaufenden Nachforschungen über Sichtbeton, nicht nur als Baumaterial, sondern auch als dekoratives Element. Deshalb experimentieren wir viel mit der Schalung und dem Abdruck, den sie an der Oberfläche hinterlässt.

Was würden Sie jemandem raten, der ein Einfamilienhaus für sich bauen möchte?

Wir raten Bauherrschaften davon ab, im Netz nach anderen Häusern zu suchen. Andere Häuser widerspiegeln die Stimmungen und Vorlieben anderer Leute. Stattdessen sollte die Bauherrschaft ein Vertrauensverhältnis zu ihrem Architekten aufbauen und ihre eigenen Gefühle, Wünsche und Ansprüche kommunizieren. So entsteht ein Haus, das auf seine Bewohner abgestimmt ist und nicht kurzlebigen Trends nachjagt.

Wie sieht die Zukunft des Wohnens aus?

Häuser verändern sich mit neuen Verhaltensweisen und Lebensstilen. Das Konzept von separaten Zimmern mit unterschiedlichen Funktionen ist überholt. Die Grenzen zwischen dem Privat- und dem Berufsleben verschwimmen. Das Zuhause ist noch immer ein Rückzugsort, in dem man sich erholt und Zeit mit den Liebsten verbringt, aber es ist auch ein Homeoffice und ein Ort der Begegnungen. Die Grundrisse und die Atmosphäre moderner Wohnbauten reflektieren das.

Sie haben Wohnhäuser, öffentliche Bauten, Ladengeschäfte, sogar Jachten gestaltet. Was haben Ihre Projekte gemeinsam ?

All unsere Projekte teilen sich die Sorgfalt, mit der wir Oberflächen, Materialien und Details aussuchen. Besonders viel Aufmerksamkeit schenken wir dem Licht, ob künstlich oder natürlich. Licht ist für uns ein Baumaterial.

TECHNISCHE ANGABEN

Introvertierte Offenheit
Obergeschoss
Introvertierte Offenheit
Erdgeschoss

[ ARCHITEKTUR ]

Parisotto + Formenton architetti | Padova (IT), Mailand (IT) parisottoeformenton.it

[ KONSTRUKTION ]

Massivbau | Flachdach | Fassade: Basalt-Platten

[ Raumangebot ]

Wohnfläche: 600 m² | Anzahl Zimmer: 9,5

[ Ausbau ]

Boden: Parkett | Wände: Sichtbeton, Verputz | Decken: Verputz

[ Technik ]

Zwei Luft-Wasser-Wärmepumpen | Bodenheizung | Cheminée | 20-kW-Photovoltaik-Anlange | Solar-Anlage | Kühlsystem | zentrale Steuerung von Siemens

Introvertierte Offenheit
Die geradlinige Architektur setzt sich in der Gartengestaltung fort. Basalt-Platten kamen sowohl im Garten als auch an der Fassade zum Einsatz.
Introvertierte Offenheit
Halb offene und geschlossene Innenhöfe schaffen geschützte Aussenräume, wo sich die Bauherrschaft alleine oder mit Gästen aufhalten kann.
Introvertierte Offenheit
Die grosszügige bulthaup-Küche mit Geräten von Gaggenau widerspiegelt den Wunsch der Bauherrschaft, Gäste mit Stil zu empfangen. Zwei Weinkühler sorgen dafür, dass der Wein korrekt temperiert ist.
Introvertierte Offenheit
Essbereich und Küche sind über raumhohe Fenster mit einem der Innenhöfe verbunden. Eichenparkett zieht sich durch alle Räume im Erdgeschoss.
Introvertierte Offenheit
Die Möblierung und die Dekoration sind zurückhaltend. Klare Linien und schwarz-weisse Kontraste erinnern an Designs von Coco Chanel.
Introvertierte Offenheit
Dieses kleine Studio im Obergeschoss ist eines der wenigen Räume, die sich zur Landschaft öffnen. Von hier aus lässt sich die Aussicht auf den Wald geniessen.
Introvertierte Offenheit
Auch das Master-Schlafzimmer verfügt über grosse Fenster. Genauso schlicht eingerichtet wie der Rest des Hauses, setzt es auf klare Formen, etwa die der rechteckigen Stehlampe «notte» von Viabizzuno.
Introvertierte Offenheit
Das Badezimmer mit Walk-in-Dusche erhält Tageslicht durch zwei hohe, schmale Fenster, welche die Privatsphäre wahren.
Introvertierte Offenheit
Introvertierte Offenheit
Introvertierte Offenheit
Introvertierte Offenheit
Introvertierte Offenheit
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Aldo Parisotto und Massimo Formenton Architekten. Parisotto + Formenton architetti, Padova (IT)
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Erdgeschoss
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Obergeschoss
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